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Kirchentag in Berlin 1961

 SIEHE, ICH BIN BEI EUCH ALLE TAGE! MT. 28.20

 
Ansprache von Propst Heinrich Grüber:
Liebe Brüder und Schwestern, meine lieben jungen Freunde! Lasst mich am Schluss der Tagung dieser Arbeitsgruppe ein Wort herzlichen Dankes sagen. Aber Dank, den wir empfangen und den wir schenken, gehört vor Gottes Thron. So wollen wir Gott wirklich danken für diese Tagung, für diese Arbeitsgruppe. Glaubt es mir, es ist für mich etwas so Bewegendes, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Als wir vor Wochen an diese Gruppe dachten, meinten wir, wenn tausend kommen, wollen wir zufrieden sein. Nun sind es mehr als zehntausend Menschen, ich sehe im Geist ausgestreckte Hände und aufgehobene Herzen, die sich den Juden entgegenstrecken. Als ich vor zwei Mona- ten in Jerusalem war, stand ich vor einer großen Menge, die mir zuhörte, und nachher streck- ten sich mir Hunderte von Händen entgegen, vergebende und verzeihende Hände. Das ist für mich in diesen Tagen das Große gewesen, dass ich fühle: Nun streckt sich eine Hand entgegen auch aus Deutschland. Nein, nun hebt hoch bei Euch Hände und Herzen, die in die Herzen und in die Hände derer da drüben einschlagen sollen! Es ist ja drüben ein Wunder Gottes festzustellen – und das werden mir diejenigen bezeugen, die am Eichmann - Prozess teilnahmen: Nach dem 16. Mai hat Gott schlechtes Wasser in gesundes Wasser gewandelt. Nach meiner Aussage im Prozess kam eine Frau zu mir und sagte: Ich habe vierzehn Menschen verloren; Sie haben mir heute die Bitterkeit aus dem Herzen genommen. Ich habe gesagt: Das kann nur einer, der Eine, der Schuld vergibt und der unser Vergeben in Liebe führt. Das ist auch das Große bei der Baumspende, zu der ich zu meinem 70. Geburtstag aufgerufen habe. Mehr als 50 000 sind schon zusammengekommen. Da wurden schon so viele Scherflein der Witwen gespendet, ein Taschengeld einer Diakonisse, ein 2-Mark-Stück einer Rentnerin, die fragte: Ist es genug für einen jungen Baum? Ich sagte: Da ist mehr als ein junger Baum , da ist Gottes Segen drin.
 

Das werden die Leute empfinden, dass durch das, was äußerlich geschieht, noch mehr zuwege gebracht wird als ein Wald, als ein Hain, in dem junge Deutsche und junge Israelis sich treffen, Das ist nicht alles. Wir wollen es nicht mit einer einzigen Tat bewenden lassen. Wer redet heute noch von den vielen Zehn- und Hunderttausenden von Brüdern und Schwestern, die aus unserer Mitte abgeholt, vergast und erschlagen wurden? Wäre es nicht höchste Zeit, dass wir im deutschen Volk ein Ehrenbuch schaffen, ein Gedenkbuch, in dem die Namen all der Menschen verzeichnet sind, die zu Tode gemartert wurden, die unter den Drangsalen gestorben sind, die unter Schrecken und Pein ein vorzeitiges Ende gefunden haben oder die in den Freitod gegangen sind? Liebe Schwestern und Brüder! Geht hinaus in eure Gemeinde und ruft alle auf, dass in jeder Gemeinde in Deutschland ein solches Gedenkbuch für alle Opfer der sogenannten Nürnberger Gesetze geschaffen wird. Es ist schön und ich kann mit Dank bezeugen, dass so viele am Werk sind. Aber es müsste einmal durch ganz Deutschland der Wille gehen, koordiniert durch die Regierungen, ein solches Memorium, ein solches Gedenkbuch, ein Ehrenbuch anzulegen. Mich hat in meinem Leben kaum etwas so bewegt wie die große Synagoge in Prag, wo an den Wänden 70 000 Namen der Juden verzeichnet sind, die aus der Synagogen-Gemeinde Prag erschlagen, ermordet, vergast wurden. Wir können keinen Raum mit diesen Hundert tausenden von Namen füllen, aber wir können ein Gedenkbuch schaffen. Ich meine, wenn diese Anregung von diesem Tag ausgeht, haben wir auch wieder etwas Praktisches geleistet, nicht nur für diesen Tag, nicht nur für dieses Jahr, sondern etwas, was unserer Jugend zur Mahnung und auch zum Anruf und zum Aufruf werden soll.Nun noch eins für euch, meine lieben jungen Freunde. Euch danke ich besonders, dass ihr hierher gekommen seid. Ich habe den Juden in Israel, den jungen Israelis gesagt und ich sage es Euch: Ihr könnt die Vergangenheit nicht einfach vom Tisch wischen und sagen: Damit haben wir nichts zu tun. Ihr müsst Euch dem Leid Eures Volkes stellen. Das habe ich drüben gesagt. Ihr müsst Euch der Sünde Eures Volkes stellen – das sage ich hier immer wieder - , Ihr müsst Euch dem stellen, der die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied, der aber auch das Haus seines Knechtes segnet ewiglich.

 

Fluch und Segen bleiben in Ewigkeit, und Ewigkeit ist uns nicht ein Zeitliches. Ein Mann, der am Ende seines Lebens steht, hat nur einen Wunsch und eine Bitte, dass Euer Weg sich anders gestalten möge als der unsrige und dass Ihr in fünfzig Jahren nicht zu stehen habt vor  einer Jugend, die Euch Fragen stellt, auf die Ihr keine Antwort geben könnt; vor einer Jugend, vor der Ihr bekennen müsst, dass Ihr mitschuldig geworden seid. Vor fünfzig Jahren waren wir junge Menschen, wir gingen auf den Hohen Meißner oder sonst wohin und sangen... Viele von denen, die so tapfer gesungen haben, haben nach fünfundzwanzig Jahren noch tapferer geschwiegen. Liebe Freunde! Ich war in Israel vor dem Gericht. „Wer da hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird genommen, was er hat.“ Darum schafft Euch echte Bindungen, damit Ihr die echte Freiheit bewahrt. Diese Freiheit erleben wir erst, wenn wir gebunden sind. Glaubt es mir, man weiß um diese Freiheit und Brüderlichkeit nur da, wo man unter dem grausamsten Zwang steht. Mit dem Wort aus Römer 8, das Ihr heute Morgen gehört habt: „Ich bin gewiss“, könnt Ihr den größten Sadisten und den brutalsten Menschen entwaffnen. Wenn das mit Euch durch Euer ganzes Leben geht, dies „Ich bin gewiss“, seid Ihr sicher. Dann endet Ihr nicht als Eichmann und werdet nicht Exponenten und Experten eines Massenmords, sondern steht da als Menschen, die die echte Freiheit haben, nämlich zum ganz anderen Bruder zu gehen. Das ist das, was wir in den schweren Jahren erlebt haben, das, was über dieser Tagung steht: „Ich bin bei Euch.“ Meine lieben jungen Freunde! Es lohnt sich schon, Jahre geschunden und geprügelt zu werden und am Rande des Grabes vorbei zu wanken, wenn einem dieses eine geschenkt wird: „Ich bin bei Euch.“ Das wünsche ich Euch Jungen in Eurer Jugend und das wünsche ich Euch allen: dies „Ich bin gewiss“. . Dann kann kommen, was will. Wir haben so viel erlebt und gesehen und noch mehr mit – erlitten, als wir selbst gelitten haben, und immer bleibt doch das eine: „Ich bin gewiss.“ Albert Schweitzer sagte mir neulich: „Ja, Ihr Jungen müsst jetzt meine Arbeit aufnehmen,“ und mit den Jungen meinte er mich Siebzigjährigen. Ich darf dieses Wort von Albert Schweitzer an Euch Zwanzig- und Dreißigjährige weitergeben. Ihr müsst jetzt unsere Arbeit übernehmen, und ihr dürft nicht die Irrwege gehen, die wir mit unserer Generation gegangen sind. ER ist bei Euch, das dürft Ihr wissen, in allen Stunden des Lebens. Das schenkt ER Euch nicht nur in diesen paar Tagen, das schenkt ER Euch ein ganzes Leben hindurch. Und wenn Ihr durch Trübsal, Mühen und Pein geht: ER ist bei Euch!