Eichmann und der Gott der Christen
David Flusser
Als wir Juden hörten, dass Eichmann nicht bereit war, den Eid auf das Neuen Testament zu leisten, sondern lediglich „bei dem Namen Gottes“ schwur, da war dies eine große Erleichterung für uns. Christen sowohl als Juden erkennen an, dass der Ursprung des Christentums im Juden- tum liegt, und Maimonides schrieb, dass das Christentum die Botschaft von unserem Gott bis zu den entlegensten Inseln trug. Das Volk Israel hätte um dieser innige Verbindung zwischen Judentum und Christentum willen es als gotteslästerlich empfunden, wenn Eichmann bei dem Buch geschworen hätte, das das Königreich Gottes verkündigt.
Ich weiß nicht, welches der Gott ist, bei dem Eichmann schwur, aber ich bin sicher, dass es weder der Gott Israels noch der Gott der christlichen Kirche ist. Durch die Jahrhunderte hindurch hat es viele Menschen gegeben, die behaupteten, dass unser Volk im Namen des Christentums verfolgt wurde, aber für mich war es stets schwierig, dieser Argumentation zu folgen. Zwar wurden während unserer langen Leidensgeschichte auch gute Christen durch religiöse Vorwände unserer Verfolger gegen uns eingenommen und betrachteten es als religiöse Pflicht, Juden Leid zuzu- fügen. Aber im Falle Eichmann ist diese Behauptung nicht stichhaltig. Eichmann löste sich selbst los von dem Gott des Christentums, und durch diesen Akt leistete er der christlichen Sache einen großen Dienst. Die Bedeutung dieser Loslösung liegt darin, dass sie die Frage beantwortet: „Was hat die Gerechtigkeit zu schaffen mit der Ungerechtigkeit? Was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsternis? Wie stimmt Christus mit Belial überein . . . ?“
2. Kor. 6,14-16.
Es sollte nun auch den ärgsten jüdischen Gegnern des Christentums klar werden, dass das Christentum als solches einer Abgrenzung bedarf, und dass das größte Verbrechen gegen unser Volk nicht im Namen des christlichen Glaubens begangen wurde.
Ich würde mich freuen, wenn die Nachricht über Eichmanns Eid unter allen Christen verbreitet würde und wenn die metaphysischen und religiösen Konsequenzen daraus in die Herzen aller Völker eingesenkt würden. Wenn die Menschheit nicht vergisst, was sich hier in der Heiligen Stadt Jerusalem ereignete, dann wird sich dies als eine große Gelegenheit für die Kirche erweisen, sich völlig loszulösen von den Spuren des Antisemitismus.
Dies war nicht immer so einfach: denn „Satan selbst verstellt sich zum Engel des Lichtes“, 2. Kor. 11,14. Nun aber scheint die Zeit dafür gekommen. Das Übel war so gräulich, dass die Maske gefallen ist. Wer könnte jetzt noch ein Anwalt des Antisemitismus sein, oder wer könnte die Ungeheuerlichkeiten Nazi-Deutschlands noch zu entschuldigen versuchen und im gleichen Atemzug vorgeben, ein guter Christ zu sein, wo Eichmann selbst es nun abgelehnt hat, in dem Namen des Gottes des Neuen Bundes zu schwören?
Dürfen wir hoffen, dass die Eindrücke dessen, was im Jerusalemer Gericht geschah, von Dauer sein werden. Oder wird alles wieder vergessen und werden sich unter den sog. Christen neue Wellen des Hasses gegen das Volk Israel erheben? Ich hoffe, dass jene Eindrücke von bleibender Dauer sein werden. Diese Hoffnung hege ich nicht aus Furcht vor neuen Verfolgungen – wir Juden sehen in unserem Martyrium einen Beweis unserer Erwählung –, sondern hauptsächlich deshalb, weil sich hier meinen christlichen Brüdern / und Schwestern / eine historische Chance bietet, ihr religiöses Gewissen von einem Stachel zu befreien, und weil es die Kirche befähigen wird, unserem gemeinsamen himmlischen Vater näher zu kommen.
Jerusalem, 21. Juni 1961
Autor: Dr. David Flusser, Dozent für Neues Testament an der Hebräischen Universität,
Jerusalem
Quelle:
Le Chaim – Zum Leben / Reise nach Israel
Junge Deutsche berichten
Herausgegeben von Rudolf Weckerling, eingeleitet von Heinrich Grüber
Käthe Vogt Verlag, Berlin 1961