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Heinrich Grüber und sein Büro

Die wenigen Spuren, die an den 9. November 1938, der nun schon über 80 Jahre zurückliegt, erinnern, sind stille Zeugen jener schrecklichen Tage, die ihre Botschaft bis heute aussenden.

 

„Es geht ein Weinen durch die Welt“, so lautet der Titel eines der vielen Bücher, die sich diesem Thema widmen. Erinnern und Gedenken öffnen uns die Augen und schärfen uns den Blick für das Geschehene. Die Statistiken und Lexika, die das rein Faktische festhalten, geben eine bloß formale Übersicht. Es sind Synagogen in Flammen aufgegangen, es sind Menschen verschleppt und ins KZ gebracht worden, und weiter es sind Menschen umgebracht und ermordet worden. Außerdem sind Läden gestürmt und geplündert worden und es ist dabei ein gewaltiger Schaden von unschätzbarem Wert angerichtet worden.

 

Das reine Zahlenwissen überfordert den Einzelnen. Er stumpft ab gegenüber dem Unrecht und der Gewalt, die dahinter steht. Denn das Einzelschicksal der Betroffenen verliert sich in der Anonymität. Das Ungeheuerliche, das Maßlose des Angriffs auf Synagogen, die Gotteshäuser sind, geht verloren. Es geht darum einen eigenen Zugang zu finden, wenn wir uns im Sinne der Erinnerungskultur diesem geschichtlichen Bruch mit der europäischen Tradition nähern wollen.

 

Ich weiß nicht, ob wir mit dem Wort „apokalyptisch“ richtig umgehen, wenn wir es als Modewort gebrauchen. Viele Ereignisse werden heute als ´apokalyptisch´ bezeichnet und stiften mehr Verwirrung als dass sie weiterhelfen. Das Wort bedeutet weder Weltuntergang noch die Katastrophe schlechthin. Es geht vielmehr auf die prophetischen Bücher der Bibel zurück und hat das Bild eines Weltdramas vor Augen.„Apokalyptisch“ meint zuerst die Öffnung des Denkens auf Gott hin, über den Abgrund hinweg - zu einer anderen Erkenntnis. Die Ereignisse vollziehen sich in komplizierten und vielschichtigen Abläufen, die schwer zu verstehen sind. Der Grundton liegt auf der Hoffnung und nicht auf deren Gegenteil.

 

Das Erinnern verknüpft mit dem Blick auf die Vergangenheit gleichzeitig den Ausblick auf die Zukunft. Wir behalten die Namen im Gedächtnis, weil sie Bleibendes in sich haben. Das Menschenbild des Nationalsozialismus und die rassistische Politik zerstörte das Bild des Menschen wie er von der Schöpfung her verstanden wird: als das Ebenbild Gottes. Auf die Rückkehr zu diesem Grundwert kommt es heute an.

 

Bei der Theorie soll es nicht bleiben. Ich möchte hier an einen Namen – stellvertretend für viele, die ein Zeugnis der Civilcourage abgelegt haben, erinnern, der auch heute noch unter uns präsent ist. Es ist der legendäre Heinrich Grüber. Er hat mit der Gründung des Büros 1938 in Berlin, Oranienburger Str. eine einzigartige Rettungsaktion für de Bedrängten und Verfolgten ins Leben gerufen. Sein Einsatz war jedoch nicht auf Berlin beschränkt. Nach seinem Vorbild entstand ein ganzes Netz von Hilfsstellen auch in anderen Landeskirchen. Diese Stellen standen nicht nur Getauften offen, sondern sie versuchten für jeden der kam, einen Ausweg entweder im Ausland oder, wenn das nicht möglich war, in Deutschland zu finden. Es liefen Verhandlungen mit Ministerien und Konsulaten, ausländischen Missionsgesellschaften, kirchlichen und staatlichen Dienststellen, soweit sie nicht von überzeugten Parteifunktionären besetzt waren.

 

Heinrich Grüber berichtete in Jerusalem rückblickend, als er sagte: „ Ich hatte das Glück, in fast allen Ministerien mindestens einen Menschen zu haben, der mich informierte und zu dem ich Vertrauen haben konnte. Es war so, dass alle meine Vertrauenspersonen heimliche Helfer waren.“

Auch mit dem berüchtigten Judenreferat des Reichssicherheitshauptamtes, dessen Leitung bei Adolf Eichmann lag, hatte Grüber regelmäßig Gespräche geführt, die jedoch keinerlei Erfolg zeitigten. Vielmehr war der Zynismus typisch, den er ihm und seiner Arbeit entgegen brachte.

 

Grüber erinnerte sich an folgendes Gespräch:

“Erklären Sie mir,“ so fragte Eichmann, „ warum Sie sich für diese Juden einsetzen. Sie haben keine jüdische Verwandtschaft. Sie haben es nicht nötig, für diese Menschen einzutreten. Niemand wird es Ihnen danken! Ich begreife nicht, warum Sie es tun!“ Darauf erwiderte Grüber: „ Sie kennen die Straße von Jerusalem nach Jericho! Auf dieser Straße lag einmal ein überfallener und ausgeplünderter Jude. Ein Mann der durch Rasse und Religion von ihm getrennt war, ein Samariter, kam und half ihm. Der Herr, auf dessen Befehle ich allein höre, sagt mir: Gehe du hin und tue desgleichen.“

 

Als im November 1938 alle jüdischen Kinder von der Schule ausgeschlossen wurden, engagierte sich das Büro auch in diesem Bereich . Der Unterricht wurde von Lehrern erteilt, die selbst den Kreisen der Verfolgten entstammten. Die kleine Schule hatte vier Klassen und eine Aufbauklasse mit fremdsprachigem Unterricht.

 

Mit der Auswanderungsplanung war ebenso eng die Planung von Ansiedlungsmöglichkeiten im Ausland und in Übersee verknüpft. Es gab Projekte in Brasilien, Abessinien, Australien und den Philippinen. In Neuseeland und anderen Ländern kam der Widerstand von Seiten der Gewerkschaften. Ganz allgemein beklagt Grüber, dass der Wille des Auslandes, die Flüchtlinge aufzunehmen, viel zu schwach ausgeprägt war!

Ein erschütterndes Bild hatte die Konferenz des Internationalen Flüchtlingskomitees im Juli 1938 in Evian hinterlassen. Für die Nationalsozialisten Politik musste der Ausgang wie eine Bestätigung ihrer Ziele wirken.

 

Der gewaltige Zustrom der in größte Not geratenen Menschen machte es nötig, dass Grüber schon bald neue Räumlichkeiten suchen musste. Seit Februar 1939 wurde die Arbeit in dem Haus „An der Stechbahn“ weitergeführt. In Abwesenheit von Heinrich Grüber übernahm Pfarrer Sylten dessen Leitung. Von der Auswanderungsabteilung des Innenministeriums hatte Grüber einen Ausweis erhalten, der seine Tätigkeit amtlich legitimierte und ihm deshalb keine Schwierigkeiten gemacht werden durften. Seine Reisen führten ihn aber nicht nur ins Ausland, er war auch unterwegs in den Gemeinden und sprach vor kirchlichen Versammlungen, vor Konventen und Synoden. Er berichtete über die verzweifelte Lage der Verfolgten und die unvorstellbaren Leiden angesichts des Todes. Doch er war ebenso sehr erschrocken über die Apathie, die ihm bei den kirchlichen Amtsträgern und Behörden begegnete.

 

„Vielleicht,“ so schreibt Grüber,“ schilderte ich den versammelten Bischöfen die Misshand lungen, denen die KZ-Häftlinge ausgesetzt wurden, etwas zu ausführlich. Ich hörte jedenfalls, wie einer der Würdenträger sagte: “Wir müssen nun langsam zum zweiten Tagesordnungspunkt übergehen.“ Der Vorsitzende der Konferenz, Bischof Th. Wurm, geleitete mich zur Tür und sagte: „Ich danke Ihnen im Namen der Brüder und wünsche Ihnen und Ihrer Arbeit Gottes Segen.“ Das war eine der ganz großen Enttäuschungen, die ich erlebt habe. Dass man Gottes Segen braucht, war mir klar, aber ich hatte gehofft, dass diese Kirchenführer uns helfen würden.

 

Seinem Mut und seiner Nüchternheit ist es zu verdanken, dass er in seinem Willen zu helfen nicht müde wurde, bis zu dem Tag, es war der 19. Dezember 194o, als ihm der NS-Staat die Arbeit aus den Händen entriss und er selbst das Leiden seiner Schützlinge teilen sollte. Kurze Zeit darauf wurde das ganze Büro aufgelöst. Auch die übrigen Mitarbeiterinnen büßten ihren Mut und ihr Opfer mit KZ-Haft oder sogar mit ihrem Leben.

 

Inwiefern hat Heinrich Grüber nun ein bleibendes Zeugnis gesetzt? Er hat das Wichtigste getan, was im Sinne des biblischen Glaubens gemeint sein kann. Er war mit denen, die in äußerster Gefahr waren, solidarisch und hat ihnen Hilfe und oft auch Rettung erwirkt. Es ist unsere Aufgabe auch heute das Konkrete zu erkennen, das Wirkliche als Herausforderung anzunehmen und nach einer Lösung zu suchen. Denn das Faktische steht nie für sich allein. Es ist Teil eines nicht immer erkennbaren Zusammenhangs, eines Systems.

Wir dürfen lernen, in jedem Menschen Gottes Ebenbild zu erkennen.

 

Wertvoll dazu:

Rita Thalmann: Die Reichskristallnacht, Frankfurt 1988

Hartmut Metzger: Kristallnacht, Dokumente von gestern zum Gedenken heute, Stuttgart 1978